München, 31. Juli 2019 – Mehrere medienträchtige Fälle von sexueller Gewalt an Kindern führten in jüngster Zeit bundesweit zu Entsetzen. Im Fall von Lügde blieben die Taten als auch die Täter über viele Jahre unerkannt. Doch wie erkennt man Opfer von sexuellem Missbrauch überhaupt? Und wie kann ihnen geholfen werden? Der Deutsche Kinderschutzbund Landesverband Bayern e. V. und die Expertin Alexandra Schreiner-Hirsch geben Antworten auf die dringlichsten Fragen.
Der Fall Lügde: Mahnendes Beispiel dafür, wie Fälle von Kindesmissbrauch oft über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte unentdeckt bleiben. Für die meisten Menschen ist dies nicht nachvollziehbar – ebenso, wie das vergleichsweise milde Urteil, das bundesweit zu Empörung in der Bevölkerung, bei Opfervertreter*innen und Kinderschützer*innen geführt hat. Das Bundeskriminalamt legte zudem erst kürzlich im Rahmen einer Pressekonferenz neue Zahlen vor. Demnach gab es im letzten Jahr 14.600 Fälle von Kindesmissbrauch in Deutschland. Dies sind 40 Opfer pro Tag. Dabei wird eine hohe Dunkelziffer vermutet, die hier naturgemäß nicht eingerechnet ist.
Wird ein Täter oder eine Täterin dingfest gemacht, ist es an den Gerichten, die Fälle zu verhandeln. Doch steht immer mehr die Frage im Raum, wie der wachsenden Zahl von sexueller Gewalt an Kindern dauerhaft begegnet werden kann. Neben präventiven Maßnahmen ist das Aufdecken derlei Fälle die wichtigste Möglichkeit, um Opfern frühestmöglich zu helfen. Doch wie erkennt man, ob Kinder missbraucht werden und was sollte man im Verdachtsfall tun?
Der Deutsche Kinderschutzbund Landesverband Bayern e. V. hat hierzu Alexandra Schreiner-Hirsch, Dipl. Sozialpädagogin, pädagogische Leitung und Projektleiterin des im Kinderschutzbund seit vielen Jahren etablierten Projekts „Begleiteter Umgang“, interviewt.
Welchen Anzeichen gibt es bei Kindern, die sexuell missbraucht werden? Bei welchen Anzeichen sollte man hellhörig werden?
Zunächst ist festzuhalten, dass es kein „Missbrauch-Syndrom“ oder eindeutige Signale gibt, die anzeigen, ob ein Kind missbraucht wird. Alle Anzeichen können auch immer andere Ursachen haben. Jedoch sind negative Verhaltensveränderungen bei Kindern oft ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt; dass das Kind Belastungen ausgesetzt ist. Vielleicht ist das Kind auf einmal verschlossen oder bedrückt, zieht sich zurück oder ist sehr nervös, zeigt Konzentrationsstörungen, bekommt plötzlich schlechte Noten, nässt wieder ein, hat Schlafstörungen oder verfällt in frühkindliche Verhaltensweisen zurück. Vielleicht flüchtet sich das Kind in Phantasiewelten oder zeigt eine vorher nicht gekannte Scheu oder Ängstlichkeit, z.B. weigert es sich, sich für den Sportunterricht umzuziehen, bei Berührungen erschrickt es, es hat Angst vor bestimmten Personengruppen, Situationen oder Räumen.
Das alles können, müssen aber keine Signale für Missbrauch sind. Alle Erwachsenen um das Kind herum sind auf jeden Fall aufgefordert das Kind ernst zu nehmen, genau hinzuschauen und zu beobachten und mit dem ihm ins Gespräch zu kommen, um herauszufinden, was es belastet. Hier ist große Sensibilität gefragt, um das Kind nicht unter Druck zu setzen.
Wenn man einen konkreten Verdacht des Kindesmissbrauchs hat, an wen sollte man sich als erstes wenden?
Möchten Sie einen Verdacht melden, empfehlen wir Ihnen in Bayern folgende Anlaufstellen:
- Beratungsstelle IMMA, wenn ein Mädchen betroffen ist, www.imma.de, Tel.: 089-238 891-10
- Beratungsstelle Kibs, wenn ein Junge betroffen ist, www.kibs.de, Tel.: 089-231716-9120
- Amyna, wenn Jungs oder Mädchen betroffen sind und sich beraten lassen. www.amyna.de,
Tel.: 089-2017001 - Kinderschutzzentrum München, Tel.: 089-55 53 56 oder Kulmbach, Tel.: 09221-92 92 18
- Der Kinderschutzbund Nürnberg, Tel.: 0911-92 91 90 00
- Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim e.V., Tel. 08031-26 88 88
- Bundesweites Hilfetelefon sexueller Missbrauch (kostenfrei und anonym) Tel.: 0800-22 555 30
- Wildwasser, z.B. in München, www.wildwasser-muenchen.de , Tel.: 089-60039331 oder Nürnberg, www.wildwasser-nuernberg.de, Tel.: 0911-33 13 30
- Medizinische Kinderschutzhotline (kostenfreies und 24 Stunden erreichbar), telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung,
Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch, Tel.: 0800-19 210 00
Bei der örtlichen Polizei oder dem Jugendamt sollte man sich nur melden, wenn man sich sicher ist, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
Darf man einen solchen Verdacht auch anonym melden?
Bei allen genannten Beratungsstellen kann man sich vertraulich, kostenlos und auch anonym beraten lassen.
Was kann man als Außenstehende*r noch tun, um einem Kind, dem offensichtlich Gewalt angetan wird, zu helfen?
Zunächst einmal ist es wichtig das Kind in seinen Nöten wahrzunehmen, ihm Hilfe anzubieten und mögliche Gewaltsituationen zu dokumentieren. Dann sollte man keine Zeit verlieren und sich an die genannten Beratungsstellen wenden.
Sollte eine Gewalttat in der Öffentlichkeit geschehen, ist es wichtig, sofort Hilfe zu holen. Sei es, man bittet andere Passanten um Unterstützung oder kontaktiert die Polizei.
Was hat ein Missbrauch bei Kindern für Folgen?
Sexuelle Gewalt kann gravierende Folgen für die körperliche und ganz besonders für die seelische Entwicklung eines betroffenen Kindes haben. Je enger die Beziehung zu dem Täter oder der Täterin war, desto schlimmer. Das Vertrauen des Kindes in Menschen, die es liebt und die ihm Schutz bieten sollen, kann dabei zerstört werden. Es können Scham- und Schuldgefühle sowie Selbsthass entstehen. Außerdem übernehmen Kinder innerlich oft die Verantwortung für die Taten, um ihr Bild von den Menschen zu retten, die ihnen wichtig sind. Bei Kleinkindern kann es in Folge auch zu enthemmtem Verhalten und Distanzlosigkeit gegenüber Fremden sowie sexualisiertes Verhalten kommen. Ein gestörtes Sozialverhalten, altersunangemessenes fürsorgliches Erwachsenverhalten, sozialer Rückzug, Selbstwertverlust, Entwicklungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen wie Ohnmachtsanfälle bis hin zu Langzeitfolgen wie Störungen im Essverhalten, Drogenabhängigkeit, Alkoholsucht oder psychosomatische Erkrankungen oder Suizidgefährdung treten leider ebenfalls häufig auf.
Die genannten Folgen sind jedoch nicht unabwendbar. Umso früher der Missbrauch erkannt wird und den Kindern geholfen wird, umso besser sind die Chancen für die spätere Bewältigung.
Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es?
Die wichtigste Maßnahme ist, Kinder in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken. Alles was das Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit eines Kindes stärkt, vermindert die Gefahr des Missbrauchs. Auch ist ein Kind das ausreichend Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommt, weniger empfänglich für Angebote von Fremden. Da der Großteil von sexuellem Missbrauch aber im häuslichen Umfeld stattfindet, müssen Kinder auch in Einrichtungen wie Kita und Schule dahingehend gestärkt werden, dass sie sich Menschen in ihrem Umfeld anvertrauen, wenn zu Hause Dinge passieren, unter denen das Kind leidet und dass sie sich Hilfe holen dürfen.
Das alles reicht aber nicht aus, denn kein Kind kann sich allein vor sexuellem Missbrauch schützen. Es braucht aufmerksame Erwachsene mit Zivilcourage, die eingreifen und Kinder aktiv schützen. Daher gilt es auch die Eltern darin zu stärken, Täter-Strategien zu erkennen, denn meist sind die Täter aus dem Umfeld der Familie. Dazu zählen unter anderem auch Sportvereine, Jugendgruppen oder die Kirche.
Man sollte das Kind im Blick behalten, beobachten, zuhören und es in jedem Fall ernst nehmen, wenn es sich verändert oder von Vorkommnissen erzählt oder bestimmte Personen plötzlich nicht mehr besuchen möchte. Auch müssen Verbände, Vereine und andere Institutionen ein Umfeld gestalten, das für Täter*innen unattraktiv ist, z.B. durch die Erstellung eines Schutzkonzeptes.
Unternimmt der Kinderschutzbund konkret etwas gegen Kindesmissbrauch in Deutschland?
Es ist die ureigenste Aufgabe des Kinderschutzbundes mit all seinen Angeboten dazu beizutragen, Kindern ein gutes Leben in sicherer Umgebung zu gewährleisten, indem wir mit unseren Einrichtungen sowohl in der Prävention als auch Intervention tätig sind. Dazu gehören unzählige Publikationen zum Kinderschutz, Elternkurse und Kursangebote für Kinder (z. B. die Medienlöwen), Fortbildungsangebote für Fachkräfte sowie die Teilhabe an Kinderschutzzentren und Kinderhäusern, die im konkreten Falle helfen können. Außerdem fordert der Deutsche Kinderschutzbund auf politischer Ebene dass u.a. die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden, oder setzt sich für einen verbesserten präventiven Kinderschutz ein.
>> Pressemitteilung zum Download (PDF)
Wollen auch Sie sich aktiv oder durch eine Spende für den Kinderschutz in Bayern stark machen? Hier finden Sie weitere Informationen: www.kinderschutzbund-bayern.de/mithelfen.
Kontakt:
Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Bayern e. V.
Cordula Falk
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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Tel.: (089) 920089-20
E-Mail: oeffentlichkeitsarbeit@kinderschutzbund-bayern.de
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Der Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Bayern e.V. ist Dachverband für 60 Orts- und Kreisverbände. Er ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und anerkannter freier Träger der Kinder und Jugendhilfe nach §75 SGB VIII. Im Bundesverband des Deutschen Kinderschutzbundes sind 16 Landesverbände und über 430 Orts- und Kreisverbände vertreten. Bundesweit haben sich über 50.000 Mitglieder zusammengeschlossen, die mit über 10.000 Ehrenamtlichen und rund 5.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine kindgerechte Zukunft schaffen wollen. Der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) hat sich seit seiner Gründung 1953 in Hamburg zur größten Lobby für Kinder in Deutschland entwickelt. Er setzt sich für die Rechte aller Kinder ein. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen Herkunft, Geschlecht, Konfession, Behinderung und Nichtbehinderung.
Der DKSB versteht sich als moderner Dienstleister und bietet Kindern und deren Familien in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Einrichtungen zahlreiche Hilfsangebote und Projekte an. Darüber hinaus leistet er auf politischer Ebene Lobbyarbeit und informiert Politiker, Medien und Öffentlichkeit über Missstände. Mehr unter www.kinderschutzbund-bayern.de.